Choreografien von Veränderungsprozessen
Zur Gestaltung von komplexen Organisationsentwicklungen
Autor: Gerhard Hochreiter, er ist Gesellschafter der Delta Consulting Linz.
Verlag: Carl Auer, 2. Auflage, 2006
Ein überaus gelungener Beitrag zum aktuellen Stand der systemischen
Organisationsberatung. Gut verständlich, nicht nur für eingefleischte Systemiker, sondern für alle die theoretisch fundierte, zugleich selbstkritisch und in der Praxis erprobte Beratungsansätze suchen.
Betrachtet man im speziellen die systemische Organisationsberatung, so deutet sich ein Generationenwechsel an. Herr Hochreiter gehört nun zu eben dieser zweiten Generation,kluger und weiterdenkender systemischer Berater, die sich auf die theoretischen Grundlagen ihrer Vorgänger stützen, sich jedoch zugleich kritisch mit diesen auseinandersetzen und eigene Alternativen aufzeigen.
Vorliegendes Buch kann daher als eine Art Verknüpfung vieler bisheriger besonderssystemischer Beratungsmodelle („State of the Art“, wie Herr Hochreiter seine Vorgänger(-modelle) respektvoll betitelt) bezeichnet werden, und stellt zugleich eine persönliche Weiterentwicklung mit dem sogenannten „7-F-Modell“ dar. Ebenso durchziehen (selbst-) kritische Anmerkungen kontinuierlich die einzelnen Statements und lösen – eben typischsystemisch- durch viele Fragen eigene Gedankenprozesse aus. Vorausschickend sei noch bemerkt, dass die höfliche Vorsicht vor den geistigen „Eltern“ manchmal etwas übertrieben scheint. Na ja, wer will schon den Ast absägen auf dem er wohl noch immer sitzt?!? Hier darf man künftige auf selbstbewusste Statements hoffentlich gespannt sein.
Doch nun endlich zum Inhalt und den jeweiligen Kapiteln:
1. Einleitung und thematische Fokussierung
2. Neue Metaphern für die Gestaltung von Organisationsentwicklung
3. Creating Paths of Change: Das 7-F-Modell für die Gestaltung von
Choreografien und Inszenierungen
4. Inhaltliche und emotionale Fokussierungspunkte zur Ausgestaltung von
Choreografien und Inszenierungen
5. Tales from the field – Choreografien von vier Change-Projekten in der Praxis
6. Theorie-Landkarten zur praktischen Gestaltung komplexer
Veränderungsprozesse
Übliche Anhänge.
Seine intelligenten und gut durchdachten Ausführungen mache wirklich Freude beim Lesen und geben viele Anstöße für eigene Überlegungen. Aufgelockert durch kleine comicartige Icons und graphische Einschübe, kann man die dichte Theorie gut verarbeiten.
Unterbrechungen und kritische Einschübe erleichtern die Bereitschaft, den Ausführungen zu folgen. Interessant ist auch die Verknüpfung der innerpsychischen Dynamik der Mitarbeiter und dem Organisationsgeschehen. Hier kann gerade die Systemik sicherlich noch weitergehende Forschungspotentiale ausmachen. Er bedient sich in diesem Zusammenhang dem sicherlich etwas plakativen Modell „SIZE“. Dieses unterscheidet zwischen Einfühlsamen, Analytiker, Bewahrer, Kreativer, Aktiver und Ruhiger.
Sein selbst entwickeltes 7-F-Modell meint folgende Funktionen:
1. Steuerungsfunktion (Wie kann der Gesamtprozess gesteuert werden?)
2. Funktion der Ausgestaltung operativer Gefäße (Welche sozialen Zusammenhänge zur Bearbeitung dieser besonderen Organisation braucht es?)
3. Entwicklungsfunktion (Variation) (Wie kommt es zu neuen Idee, Lösungen, Gestaltungen?)
4. Funktion der Selektion (Wie wird aus den Vorschlägen ausgewählt? Wie wird entscheiden?)
5. Kommunikations- und Abstimmungsfunktion (Wie wird über den Changeprozess informiert und kommuniziert?)
6. Implementierungsfunktion (Wie kann das Neue in der Organisation nachhaltig verankert werden?)
7. Qualifizierungsfunktion (Welche Qualifikationen, Skills braucht man? Wie denUmgang mit den Psychodynamiken gestalten?)(S. 51)
Sämtliche Funktionen sollten im Beratungsprozess auftauchen und klar definiert werden,um zu einer überprüfbaren Zielerreichung kommen zu können. Das Thema „Kultur“ erhält besondere Aufmerksamkeit: „Kultur ist immer das Ergebnis historischer Lernprozesse des Umgangs mit Lösungen in Bezug auf Zumutungen aus der Umwelt und in Bezug auf die Koordinationsform der Arbeit rund um das spezifische Ziel.“(S. 151)
Die ausführlichen Berichte aus real statt gefunden Projekten sind etwas schwernachvollziehbar. Nach dem Motto: „Papier ist geduldig“ bleiben die Ausführungen abstrakt und stark auf der Metabene fokussiert.
Der Rezensentin sei lautes Nachdenken gestattet: Betrachtet man die Literatur zur Organisationsentwicklung taucht die Frage nach dem grundsätzlichen Nutzen dieserkomplexen Beratungs-Gebilde auf. Manchmal wünscht man sich mehr Orientierung an den Zielen der Unternehmen und weniger Reflektion der Entwicklung um der Entwicklungwillen. Hier besteht aus Sicht der Rezensentin eine grundlegende Notwendigkeit der kritischen Infragestellung des Beratungsmarktes. Je mehr und tiefer Berater forschen, umso mehr Bedarf erschaffen sie, dadurch ihr Brot zu verdienen. Die Menge unentdeckter potentieller Probleme, Verbesserungsmöglichkeiten und alternativer Wege ist so ziemlich unerschöpflich. Welches Glück für die problemsuchenden und antwortanbietenden Berater.
Mit dem vorliegenden Buch ist in Ansätzen diese selbstkritische Stimme des Autors zu hören.
„Im Anschluss an O. Neuberger…vertreten wir die These, dass wer nach Aufwand und Zeit bezahlt wird, Aufwand und Zeit produziert! Je komplexer die Choreografie, je umfangreicher die beraterbegleitenden Tage, desto mehr Beratertage lassen sich verrechnen. Auf der Seite der ökonomischen Logik ist auch der Aspekt des Narzissmus zu finden: Je größer, schöner verzahnter, bunter, schwieriger etc. die Beratungschoreografie, desto wichtiger, größer, besser wirke ich als Berater. Die Choreografie dient dann sozusagen als Symbol für Wertigkeit und Wichtigkeit. „ ( S. 62)
Diese Erkenntnis hält ihn jedoch nicht davon ab, ein weiteres, neues, attraktives und kluges Modell vorzustellen.
Eine gewisse Realitätsferne zum Unternehmensalltag scheint sich leider durch zu viele intelligente Konzepte zu ziehen. Organisationsentwicklung sollte sich vielleicht, mehr amUnternehmenszweck orientieren, und weniger an ihrer eigenen Berechtigung oder der Lust geistige Akrobatik vorzuführen.
Durch die 4 Darstellungen (immerhin auf 100 von 280 Seiten!) konkreterBeratungsprozesse, bemüht sich der Autor diesen Vorwurf zu entkräften. Da jedoch sämtliche Prozesse vor 2000 beendet wurden, wäre es anlässlich der 2. Ausgabe dieses Buches sehr interessant, etwas über die heutigen Ergebnisse der damaligen Interventionen zu erfahren. Welche Nachhaltigkeit im besten Sinne hatten die damals eben doch einigermaßen aufwendigen „Choreografien“ erzeugt? Wie wird heute das Aufwand-Nutzen Verhältnis eingeschätzt?
Vielleicht liegt hier auch ein gewisser Bruch in der persönlichen Entwicklung des Autors, der sich selbst ja eher distanziert von großen Aktionen, hier im Buch jedoch teils über 1-2 Jahre hinweg dauernde Prozesse mit intensiven und sehr komplexen Designs beschreibt. Diesen jedoch wohl teils nur beobachtend beiwohnte bzw. sich die Prozesse im nach hinein beschreiben ließ.
Interessant ist das Lesen jedoch allemal und gerade mit den Ambivalenzen und (auch ausgesprochenen) Ungereimtheiten inspirierend.
Zielgruppe ist klar die Beraterriege, hier jedoch breit gefächert auch für die interessant, die Systemik kennen lernen wollen. Natürlich auch Führungskräfte die über die Implementierung eines Changeprozesses nachdenken und Entscheidungshilfe suchen.